Yamaha MT-10 Test

Erster Test der Yamaha MT-10 2016

Wie fährt sich die neue Yamaha MT-10? Ich habe vor Ungeduld an den Wänden gekratzt, bis ich die MT-10 endlich fahren konnte. Die nackte R1 im ersten Test.

Nach kurzer Recherche weiss ich jetzt, wie der Steinmensch der Fantastic Four heisst: The Thing; ob seiner grobschlächtigen, groupiefeindlichen Erscheinung eher dauerunentspannt und wegen seiner verletzungsresistenten Natur jederzeit bereit, durch eine Wand zu rennen. Daran - und an einen Transformer - erinnert mich die MT-10. The Thing gegenüber hat sie aber einen entscheidenden Vorteil: Sie ist flink und beweglich wie ein Wiesel. Wenn das die drei übrigen Fantastischen erfahren, ist das Ding raus aus dem Team.

Liebe auf den zweiten Blick

Zum ersten Mal live gesehen habe ich die Yamaha MT-10 erst auf der Motorradmesse in Linz am 5. Februar 2016. In Mailand konnte ich unser lokales Büro immer nur kurz zum Luftholen verlassen und habe praktisch nichts vom gewohnt beeindruckenden Aufgebot der grössten Motorradmesse der Welt mitbekommen. Man nennt das vor vollen Tellern verhungern.

Design der MT-10: Modern muss sein

Von den Bildern der Pressemeldung war ich nicht überzeugt. Die Scheinwerfer/Instrumentenmaske schien zu hoch angesetzt, die Front zu zerklüftet und die Gestalt nicht ausgewogen. Doch beim ersten persönlichen Zusammentreffen war ich schwer beeindruckt. Ich verstehe, dass sich viele von uns die vermeintliche "gute, alte Zeit" zurückwünschen und klassische Formen aus Sehnsucht nach ebendieser wieder stärker gefragt sind, doch Design muss sich weiterentwickeln und neue Formgebungen hervorbringen, die selbst irgendwann zum Klassiker morphen.

Radstand-Wahnsinn 1400 mm

Nach dem, was Yamaha in den letzten Jahren speziell unter dem Label MT auf die Räder gestellt hat und damit grossen Erfolg hatte, war es zwar nicht zu erwarten, aber ein bisschen zu befürchten, dass die Hypernaked mit einem Radstand von nur 1400 mm und einem Lenkkopfwinkel von 24 Grad zu radikal agieren könnte. Doch die japanischen Ingenieure haben aus der R1 eine der derzeit besten Nackten der 1-Liter+ Klasse gemeisselt. Obwohl es sich nach deren Definition nicht um eine nackte R1 handelt.

Motor, Rahmen und Fahrwerk wurden zwar wirtschaftlich logisch an die MT-10 weitervererbt, aber so umfangreich modifiziert (Motor 40% neu, 12l Airbox, Fahrwerk neu abgestimmt, neuer Heckrahmen aus Stahl für mehr Flexibilität...), dass man von einem unabhängig entwickelten, für sich stehenden Motorrad sprechen muss. Die Elektronik wurde auf ein erträgliches und sinnvolles Mass reduziert, es gibt ABS, 3-stufige und abschaltbare Traktionskontrolle, 3 Fahrmodi -und - einen Tempomaten für die Gänge 4 bis 6 ab 50 km/h.

MT-10 für grosse Fahrer?

Mit einer Sitzhöhe von 825 mm liegt die MT-10 genau im Mittel in dieser Klasse. Das wird wohl auch für Länge und Breite gelten, obgleich diese Werte weniger von Interesse sind. Wo sie wirklich alle anderen unterbietet ist der Radstand. Nur die seligen Buells waren noch kompakter gebaut, in Motorleistung und Fahrverhalten der Yamaha aber deutlich unterlegen. Der Radstand beeinflusst naturgemäss die Geometrie und Ergonomie. Am Papier ist kaum abzulesen, ob ein bestimmtes Motorrad grösseren Fahrer/innen zu empfehlen wäre, denn entscheidend sind der Abstand der Sitzfläche zum Lenker, dessen Höhe und die Position der Fussrasten bzw. der sich daraus ergebende Kniewinkel. Man sitzt zwar näher am Lenker als auf der R1, dieser ist naturgemäss aber auch viel höher angebracht.

Ergonomie

Ich sitze mit meinen 1.80 m (lange Heidi Klum-Beine!) mit entspannt angewinkelten Beinen im Sattel, errreiche den Boden locker und habe an den Flanken des Tanks genügend Luft, dass ich es wage, auch Fahrern mit um die 1.90 m Körpergrösse die MT-10 zu empfehlen. Der Sitzpolster selbst ist wie das Fahrwerk sportlich-straff. Der klassische Vielfahrer wird wohl das Komfortlevel durch diverse Massnahmen etwas heben wollen, dazu wird dann auch der Windschutz zählen, der bei Geschwindigkeiten ab 150 seine Leistungsgrenze erreicht hat.

160 PS, 111 Nm

160,4 PS bei 11.500 U/min. leistet der 998 Kubik grosse CP4-Motor aus der R1 in der Naked Bike-Schwester. Wie immer wurde die Spitzenleistung des Vierzylinders einem besseren Drehmomentverlauf geopfert; das bedeutet meist mehr Druck im unteren und mittleren Drehzahlbereich. Das Spitzendrehmoment von 111 Nm steht bei 9.000 U/min. an, während die R1 erst bei 11.500 U/min. 112,4 Nm erreicht. Der Unterschied ist auf der Leistungskurve und in der Realität noch grösser als erwartet, der CP4 mit 90 Grad Hubzapfenversatz fühlt sich subjektiv noch schroffer und charakterstärker an.

Der in ungeschöntes Schlachtschiff-Grau eingeschalte Atomreaktor schiebt Leistung ohne Ende raus wie ein AKW unter Volllast. Die Höchstgeschwindigkeit von 245 km/h habe ich anfangs noch belächelt...nun ja, sagen wir mal, jetzt nicht mehr. Ganz einfach deshalb, weil das Ding bis zur Vmax volle Granate marschiert und man sich fast schon wünscht, dass die Brennstäbe die Belastungsgrenze erreicht haben, bevor es zum Supergau kommt.

Fahrmodi und Traktionskontrolle in Massen

3 Fahr- und 3 TC-Modi sind für die Zukunft wahrscheinlich aller guten Dinge. Mehr braucht auf der Strasse niemand, auf der Rennstrecke wenige. Der Standardmodus bietet das mildeste Ansprechverhalten, der A-Modus ein schärferes und der B-Modus das schärfste. Bitte merken, war früher anders. Der B-Modus war mir angesichts der Wetterkapriolen während der Testfahrt sogar zu scharf. Bei der TC regelt Stufe 3 am stärksten (kaum Wheelies), in Stufe 1 am wenigsten (wäre die Wahl dür die Renne, oder eben off). Im Regen fuhr ich mit 3, im Trockenen mit 1 und die TC hat mich kein einziges Mal gestört. Allerdings war der Grip mit den Bridgestone S20 bei allen Bedingungen sehr gut.

Mehr Würze als ein Suppenwürfel

Die MT-10 ist ein Kraftpaket und Rennwürfel. Ein agiles Handling war zu erwarten, aber die Yamaha blieb auch in Highspeed-Kurven stabil, zappelte nicht, machte mich nie nervös und gab mir immer das Gefühl, die volle Kontrolle zu haben. Der Lenkungsdämpfer zähmt die Front, wenn der Gaul an den Zügeln reisst, die bärenstarken Bremsen, die ohnehin nur unterfordert waren, fangen ihn wieder ein. Das hat Yamaha gemeint, als sie bei allen dunklen 'dark side of Japan'-Visionen von Fahrbarkeit sprachen. Leider konnten wir das Potenzial der Hypernaked nicht annähernd auskosten, was als deutliche Aussage zu ihrer Leistungsfähigkeit verstanden werden darf. The Thing wird not amused sein.

Zubehör Yamaha MT-10

Japanische Listen an Originalzubehör sind zwar meist nicht sehr lang, aber sehr notwendig, wie der "Den-muss-man-haben"-Akrapovic-Endtopf, der "Glaubt-mir-ihr-braucht-einen"-Quick-Shifter, oder die "Na-schlecht-is-das-nicht" Komfortsitzbank. Erweiterungen wie die halbhohe Verkleidungsscheibe und softe Seitenkoffer gehen bei allem Nutzen aber stark auf Kosten der Optik.

Fazit: Yamaha MT-10 2016

Ein monumentales Naked Bike, das die MT- Palette von Yamaha krönt. Als Basis bringt die R1 die besten Voraussetzungen mit, die von den japanischen Ingenieuren auf eine Hypernaked zugeschnitten wurden. Die Kraft ist atemberaubend, das Handling das einer 600er. Dabei bleibt die MT-10 auch bei hohen Geschwindigkeiten stabil und souverän. Ein kompaktes Kraftpaket erster Güte.


  • CP4-Motor
  • charakterstark
  • extrem agil
  • Highspeed-Stabilität
  • starke Bremsen
  • unverkennbarer Sound
  • Dürftiger Komfort
  • Windschutz eingeschränkt
  • harter Sitz

Bericht vom 14.05.2016 | 144'195 Aufrufe

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