Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022 Reise-Test in den Südtiroler Alpen

Taugt die Kompressor-Rakete für anständige Reisen?

Zum Saisonabschluss sind wir mit unseren Dauertestern ausgerückt und haben das legendäre Stilfser Joch besucht. Auf gut 1.600 Kilometern muss die Ninja H2 SX SE zeigen, wie gut ein 200 PS Hyper-Tourer reisen kann.

Die Kawasaki Ninja H2 SX SE hat uns nun schon die ganze Saison 2022 begleitet und mehrfach bei Tests und Vergleichen einen Auftritt gehabt. Beim grossen Hyper-Touring-Vergleich musste sie sich mit der starken Konkurrenz, wie Suzuki Hayabusa und Aprilia Tuono V4, messen. Sogar bei unseren 1000PS Trackdays war sie schon dabei und führte ihre Seitenkoffer mit 300 km/h spazieren. Zum Saisonabschluss ging es aber nicht um High-Speed und Sportlichkeit, sondern um einen ernsthaften Reisetest. Direkt am Fusse des Ortlers und nicht unweit des berühmt-berüchtigten Stilfser Jochs quartierten wir uns im Motorrad Hotel MoHo Paradies in Sulden ein. Mit dem auf Biker zugeschnittenen Service, top Essen und perfekter Lage ist das 4-Helme Hotel ideal als Stützpunkt für eine Testwoche in den Alpen. Hier kommen aber nicht nur die mächtigen Pässe, sondern auch kleine Nebenstrassen und breite Autobahnen unter die Räder. Wie schlägt sich die Ninja H2 SX SE in diesem vielseitigen Einsatzbereich?

Langstrecken-Komfort der Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022

"Wie reisetauglich ist das wirklich?", ist wohl eine legitime Frage in Bezug auf die Ninja H2. Schliesslich ist sie mit ihrem Kompressor-aufgeladenen 998 cm³ Reihenvierzylinder und 200 PS Spitzenleistung doch ein sehr radikales Gerät. Nach einer guten Woche auf Reise mit ihr kann ich sagen: Man muss das schon wollen! Der Motor polarisiert dabei eigentlich kaum, denn das bärenstarke Aggregat hängt dermassen fein abgestimmt und sauber am Gas, dass auch gemütliche Gangarten und Ortsgebiete überhaupt kein Problem sind. Vielmehr ist es die Sitzposition, die unser vierköpfiges Team spaltet. Während ich über unsere Cardo Packtalk Edge Kommunikationssysteme schon nach wenigen Kilometern so sehr zu jammern anfange, dass sich die Kollegen schnell den Neuroth Gehörschutz in die Ohren stecken, haben Poky, Schaaf und Carlos keine Probleme mit der Ninja.

Durch die Stummellenker ist der Oberkörper des Fahrers recht weit nach vorne gelehnt, ohne Körperspannung lastet Druck auf den Handgelenken. Zusätzlich ist der Kniewinkel spitz und der Tank recht breit. Das Ergebnis ist eine gespannte Körperhaltung. Mit meinen 1,85 m bin ich gefühlt auch schon platztechnisch eingeengt, die Knie passen nicht mehr perfekt in die seitliche Kuhle am Tank. Ob man diese Position aber über längere Zeit aushält, oder sogar als angenehm empfindet, hängt stark von den eigenen Vorlieben ab. Während ich als Enduro-Fahrer diese "Kröten-Position" nicht lange einnehmen kann, empfinden Kollege Poky und Schaaf, beide auch um die 1,85 m, die Ergonomie als gelungen. Sie cruisen entspannt auf der Ninja H2 SX SE dahin, geniessen auf der Autobahn den guten Windschutz und die technologischen Vorzüge des Flaggschiffs von Kawasaki. Der abstandsregelnde Tempomat und Totwinkelassistent funktionieren einwandfrei, selbst auf kurvigen Strassen. Bei den Koffern von Kawasaki sind wir uns wieder einig. Die seltsame, nach hinten spitz zulaufende Form der Hartschalenkoffer dürfte zwar bei hohen Geschwindigkeiten notwendig sein, trotzdem ist diese Formgebung beim Be- und Entladen eher eine Pein. Mit zwei mal 28 Litern Volumen passt zumindest einiges rein, solange es sich nicht um grössere, rechteckige Objekte handelt. Auch ein konventioneller Integralhelm passt in den Koffer.

Handling und Fahrverhalten der Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022

Richtig lustig wird es auf der Ninja aber im Winkelwerk. Selbst ich vergesse im Angesicht endloser Radien schnell die schmerzenden Knie und entfessle den Vierzylinder. Wobei, so richtig entfesselt werden kann die Ninja H2 SX SE auf öffentlicher Strasse eigentlich nie. Selbst der erste Gang katapultiert Motorrad plus Fahrer in wenigen Sekunden auf über 100 km/h. Vor allem ab 7.000 Touren reisst der Motor noch einmal mächtig an, wobei der Druck des Kompressor-Aggregats nie als schwach zu bezeichnen ist. Der Quickshifter, der beste von Kawasaki bis dato, steigert den Fahrspass noch. Auf Strecken mit engen, dicht aufeinanderfolgenden Radien kann das Gewicht der Ninja von 268,5 kg (vollgetankt, von uns gewogen) etwas träge wirken. Sie braucht einen bestimmten Lenkimpuls mit dem Körpergewicht. Dann kippt sie allerdings willig und vor allem extrem stabil in Schräglage und zieht dort unfassbar sauber durch den Radius. Das liegt vor allem an dem gelungenen Chassis und Fahrwerk der Ninja H2. Das voll einstellbare und semi-aktive Fahrwerk bietet Dämpfung höchster Güte und schluckt Unebenheiten, ohne sich jemals aufzuschaukeln. In Kombination mit der nach vorwärts gelehnten Sitzposition gleitet man wie ein Schnellzug dahin und hat obendrein noch extrem viel Gefühl für den Grip des Vorderrads. Mit dem brachialen Motor, dem nicht ganz agilen Handling und einem sehr begrenzten Einschlag ist die Kawasaki Ninja H2 SX SE sicherlich kein Motorrad für Anfänger oder unerfahrene Piloten. Doch hat man sich erst auf die besondere Geometrie und das Fahrverhalten eingestellt, fühlt man sich unfassbar sicher im Sattel.

Abschlussprüfung für die Kawasaki Ninja H2 SX SE am Stilfser Joch

Das Stilfser Joch, mit 2.757 Metern die zweithöchste asphaltierte Passstrasse der Alpen, gilt für viele als Endgegner der Pässe. 48 Kehren führen auf der Südtiroler Seite zur Passhöhe, die meisten davon extrem eng und steil. Diese Kombination fordert viele Motorradfahrer, vor allem wenn sich auf dem beliebten Pass auch noch jede Menge Autos, Wohnmobile und sogar Busse und LKWs drängeln. Das Treffen der richtigen Fahrlinie ist hier extrem wichtig, das Motorrad will beherrscht werden. Etwas zu wenig Gas, oder zu geringe Geschwindigkeit in der äusserst engen Kurve und schon kriegen die oft schwer beladenen Maschinen zu viel Schräge und kippen um. Zu sehen in jeder Menge Youtube Fail Compilations und auch bei unserer Fahrt am Passo Stelvio liegt so manches Bike in der Kehre.

Kawasaki Ninja H2 SX SE Test am Stilfser Joch 2022
Auch am anspruchsvollen Stilfser Joch schlägt sich die Kawasaki Ninja H2 SX SE durch ihre Stabilität sehr gut.

Mit der Kawasaki Ninja H2 SX SE bewegt man sich aber äusserst geschmeidig um die Ecken. Der Lenkeinschlag limitiert zwar auch hier die Bewegung, doch dafür werden höhere Schräglagen und saubere Fahrlinien auch bei niedrigen Geschwindigkeiten durch das Gefühl für das Vorderrad und die Stabilität leicht gemacht. Auch bergab bügelt die Ninja H2 souverän den Pass hinunter, da Brembo Stylema Monobloc Bremszangen und 320 mm Doppelscheiben vorne schon mit geringem Kraftaufwand zu mächtiger Verzögerung fähig sind. Auch nach 30 abwärts angebremsten Kehren bleibt die Bremserei konstant und mit präzisem Druckpunkt.

Der perfekte Reifen für die Kawasaki Ninja H2 SX SE? - Conti RoadAttack 4

Für diese Tour brauchte es einen Reifen, der einerseits mit kalten und feuchten Bedingungen klarkommt, gleichzeitig aber auch die massive Leistung der Ninja H2 SX SE auf die Strasse bringen kann. Die Wahl fiel auf den Conti RoadAttack 4, der sich in Tests mit kurzer Aufwärmzeit, gutem Nassgrip, guter Laufleistung und agilem Handling hervorgetan hat. Auch auf der Ninja H2 und den Passstrassen Südtirols bereuen wir unsere Entscheidung nicht. Mehr als nur einen Tag kommen wir ins Nasse, am Katschbergpass schneit es Ende September sogar schon. Hier bietet der RoadAttack 4 eine stabile Basis, die in Kombination mit dem feinen Grip-Gefühl der Kawasaki auch unter widrigen Umständen richtig gut funktioniert. So lässt es sich auch im Nassen und Kalten einigermassen flott unterwegs sein und im Trockenen sowieso.

Conti RoadAttack4
Mächtig Leistung und wechselnde Bedingungen: Eine herbstliche Tour mit der Ninja H2 SX SE stellt schon hohe Anforderungen an den Reifen. Unsere Wahl: Conti RoadAttack4

Sozius-Tauglichkeit der Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022

Die Ninja H2 mag ein sehr sehr sportliches Tourenfahrzeug sein, trotzdem bleibt sie eine Reisemaschine. Und manche wollen Reisen nur zu zweit bestreiten, weshalb wir uns auch die Soziustauglichkeit angesehen haben. Mit einer Zuladung von 195 kg sollten sich zwei Personen plus Gepäck legal ausgehen. In puncto Komfort sieht es für den Beifahrer oder die Beifahrerin ähnlich aus, wie im vorderen Sattel. Der Kniewinkel ist ziemlich spitz, der Oberkörper auch eher nach vorne gelehnt. Viel Platz ist auch nicht, dynamische Duos dürfen auf der Kawasaki also keine Berührungsängste haben. Positiv ist aber, dass der buckelige Tank gut erreichbar ist und sich so der Sozius bei Bremsmanövern selbst auch abstützen kann.

Soziustest auf der Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022
Berührungsängste sind auf der Kawasaki Ninja H2 SX SE im zweisamen Betrieb fehl am Platz.

Reichweite und Verbrauch der Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022

Auf unserer insgesamt 1.609 km langen Reise haben wir auch den durchschnittlichen Spritverbrauch gemessen und berechnet. Alles in allem gönnte sich die Ninja H2 SX SE 91,37 Liter was einen Verbrauch von 5,68 L/100km bedeutet. Damit liegt sie bemerkenswerterweise nur 0,01 Liter über der Herstellerangabe, und das nach einer Reise mit vielen Passstrassen, Autobahnpassagen und langsamen Ortsgebieten.

Fazit: Kawasaki Ninja H2 SX SE 2022

Die Kawasaki Ninja H2 SX SE gehört mit Sicherheit zu den flottesten Reise-Motorrädern am Markt. Aber ist sie auch eine der besten Tourer? Die üppige Ausstattung und Elektronik von Kawasakis technologischem Flaggschiff bietet Komfort, Stabilität und funktioniert einwandfrei. Mit dem saustarken Motor und etwas trägem Einlenkverhalten muss man umzugehen wissen, doch dann bietet die Ninja H2 SX SE auch in engen Kurven Fahrspass. Schlussendlich entscheidet noch die Ergonomie, ob das Motorrad auch reisetauglich ist. Hier muss jeder für sich selbst entscheiden, ob er oder sie mit der doch sehr sportlichen Haltung. Falls ja, dann ist die Kawasaki Ninja H2 SX SE eine gewaltige Reisemaschine, die von der Autobahn bis zum Alpenpass eine gute Figur macht.


  • Bärenstarker Motor
  • Extrem stabiles, semi-aktives Fahrwerk
  • State-of-the-art Elektronik
  • Sehr viel Gefühl fürs Vorderrad
  • Guter Windschutz
  • Schöne Verarbeitung und grosses TFT-Display
  • Top Bremsen
  • Etwas träges Einlenkverhalten
  • Hoher Preis
  • Sportliche Sitzbank kann für manche Piloten zu extrem sein

Bericht vom 16.10.2022 | 25'616 Aufrufe

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