Harley-Davidson Heritage Reise-Test USA

Wie schlägt sich der 114er Twin im klassischen Kleid?

Der Bundesstaat New York hat einiges zu bieten. Was genau haben wir im Sattel der perlweissen Harley-Davidson Heritage herausgefunden. Ein Reisetest der Extraklasse.

Motorrad-Traumrouten in New York - gibt es die überhaupt?

Denkt man an New York, schiessen einem sofort Wolkenkratzer, Manhattan voller Yellow Cabs, kurz eine niemals schlafende, dicht besiedelte Metropole unfassbaren Ausmasses in den Kopf. Aber der Bundesstaat New York bietet auch abseits seiner grössten (allerdings nicht seiner Haupt-)Stadt Grossartiges. Im Sattel eines Motorrads empfindet man Einsamkeit als Ruhe und ist sowieso lieber ungestört. Daher bietet es sich an, die glitzernde Skyline hinter sich zu lassen und am Jersey-Ufer des Hudsons gen Norden zu cruisen. Die Gebäude werden dabei rasch kleiner, die Natur abwechslungsreicher und üppiger. Die meisten Bäume stehen hier Anfang April bereits in voller Blüte, die Temperaturen bewegen sich um 20 Grad. Ideale Motorrad-Bedingungen machen mir Lust auf die folgenden zwei Tage im Sattel. Die Route durch New Jersey und New York an Tag 1 und Tag 2 habe ich wie immer mit Calimoto berechnen lassen.

Wie kommt man in den USA an Harley-Davidson Motorräder? Eaglerider Rental

Aber alles der Reihe nach: Auf den Geschmack gekommen, mir an der Ostküste ein Motorrad zu mieten, bin ich während meines Aufenthaltes in Kalifornien, wo ich die Harley-Davidson Breakout 117 und die Road Glide Limited CVO 2023 testen durfte. Auch in New Jersey sollte es eine Harley-Davidson sein, das Gefühl ein Motorrad durch sein Heimatland zu bewegen, hatte es mir einfach zu sehr angetan.

Die besten Karten für dieses Unterfangen hat man, wenn man sich an das riesige Netzwerk von Eaglerider hält. Die enge Kooperation mit Harley-Davidson (die 97! Standorte sind grossteils in Harley-Davidson Stores untergebracht und über die gesamte USA verteilt) ermöglicht es einem, top aktuelle Bikes auszufassen. Die herrliche perlweisse Heritage, die ich am Standort in Long Branch, NJ entgegennehme, ist zwar aus dem Modelljahr 2022, hat aber gerade einmal 600 Meilen auf der Uhr, als ich sie in die Finger bekomme und steht da wie aus dem Ei gepellt. Die Fahrzeugübernahme geht rasch vonstatten, da ich meine Daten bereits online vorab ausfüllen und sogar meinen Führerschein hochladen kann. Nach einer einzigen Unterschrift vor Ort geht es auch schon los. Angenehm ist es auch, dass Eagleriders auf 24-Stunden Basis abrechnet. So kann ich mit einer Tagesmiete von 190 Euro (inkl. Vollkaskoversicherung ohne Selbstbehalt und Leihhelm bei Bedarf) gemütlich eine Zweitagestour - Abholung und Rückgabe jeweils zu Mittag - mit Übernachtung realisieren.

Fahrendes Motorrad

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Tag 1 im Sattel - Kennenlernen der Harley-Davidson Heritage

Die Strecke führt mich durchs dicht besiedelte New Jersey über bis zu 12-spurige Highways Richtung New York City. Viele dieser Strassen, wie etwa die New Jersey Turnpike, oder der Gardenstate Expressway sind mautpflichtig, wobei die Höhe der Beträge in der Regel der Hälfte der Kosten für Autos ausmacht. Manchmal entfällt die Maut auch gänzlich. Positiv macht sich hier der serienmässige Tempomat an der Heritage bemerkbar. Die Bedienung ist selbsterklärend und das System verrichtet zuverlässig seinen Dienst. Ich stelle den Geschwindigkeitsregler auf 70 Meilen und befinde mich so eher im langsameren Drittel der Interstate-Nutzer. Offiziell gilt zwar ein Tempolimit von 65 Meilen, doch daran hält sich kaum jemand. Der Garden State, wie New Jersey mit Spitznamen heisst, ist berühmt berüchtigt für seine ungestümen Verkehrsteilnehmer und so sind Fahrer, die mit 80 oder mehr Meilen unterwegs sind, keine Seltenheit.

Eine zweite Eigenschaft, die man bei höheren Geschwindigkeiten gut beurteilen kann, ist der Windschutz. Der klassisch gestaltete Windschild an der Heritage überzeugt dabei mit solider Funktion. Selbst mit Jethelm lassen sich Autobahn-Etappen gut bewältigen. Aus Komfortgründen verzichte ich auf solchen längeren Routen-Teilstücken mit konstant höherer Geschwindigkeit seit Jahren nicht mehr auf meinen angepassten Gehörschutz von Neuroth. Der Oberkörper ist also zufriedenstellend aus dem Wind genommen, für die Extremitäten gilt das weit weniger. Dafür verantwortlich zeigen sich das Fehlen von Handguards bzw. einer breiten Verkleidung im Falle der Arme, sowie die cruisertypisch weit nach vorne gesetzten Trittbretter an der Heritage, die die Beine direkt in den Fahrtwind stellen. Dadurch entsteht ein Luftzug in Richtung Körpermitte, der bei kühlen Temperaturen unangenehm sein kann.

Die Interstate 95, eine der wichtigsten Verkehrsadern des Landes, die von Miami im südlichen Teil Floridas entlang der gesamten Ostküste der USA bis nach Houlton in Maine nahe der kanadischen Grenze auf einer Länge von 3101 Kilometern verläuft, verlasse ich auf der Höhe von Downtown Manhattan. Im Stadtteil Hoboken nähert sich die Route dann dem berühmten Hudson River an, der auf diesem Teil den Grenzverlauf zwischen New Jersey und New York markiert. Jetzt wird der Blick auf die einzigartige Skyline des Big Apple freigegeben. Zeit anzuhalten und das Erlebnis auf sich wirken zu lassen, während der 114er Motor in der Harley sich im Schatten der in voller Blüte stehenden Kirschbäume knisternd ebenfalls eine Pause gönnt.

Harley Davidson Heritage New York
Schönheiten in Weiß vor der Skyline des Big Apple

Die Optik der Harley-Davidson Heritage

Die Silhouette des klassischen Cruisers kommt jener der Oldtimer Harley-Davidsons im aktuellen Modellprogramm eindeutig am nächsten. Das zentrale Federbein hinten wird geschickt kaschiert, wäre aber sowieso durch die als Standard an der Maschine montierten Seitentaschen verdeckt. Der Look von Damals wird jedenfalls wunderschön zitiert. Ein besonderes Highlight stellen die goldenen Linierungen dar, die sich konsequent von der Front bis ins Heck durchziehen. Zugeständnisse an die Moderne finden sich bei der Lichtanlage. Beim Frontscheinwerfer und den ikonischen Nebelscheinwerfern setzt man auch bei diesem Modell mittlerweile auf LED-Technik. Die gute Ausleuchtung der Strasse auch bei schwierigen Sichtverhältnissen dankt es.

Wieder zurück im Sattel folge ich von herrlichen Ausblicken auf Midtown New York begleitet der River Road nach Norden, bis diese nach dem Unterfahren der George Washington Bridge in den Palisades Parkway mündet. Jetzt steigt das bis dahin sehr flache Land sanft an und durch frühlingshafte Wälder schwinge ich mit der Heritage in weiten Radien an der Steilküste des Hudsons entlang. Die dichte Bebauung endet und als der Parkway sich vom Flussbett entfernt, wechsle ich auf den Highway 9W und entere den Bundesstaat New York.

Endlich in New York State - die ersten nennenswerten Kurven warten

Nach einer Kaffee-Pause am Hudson-Ufer des verschlafenen Örtchens Haverstraw, wird es (endlich) kurvig. Die kleine Strasse durch den Heriman State Park ist zwar vom Belag her nicht direkt mit einer Rennstrecke zu vergleichen, aber sie verläuft durch kupiertes Gelände mit schönen Felsformationen und an Seen entlang. Ich durchquere den Park im Süden von Ost nach West und etwas weiter nördlich wieder von West nach Ost, um danach den Hudson River an der Engstelle nahe des Forts Montgomery zu überqueren und die Tour in Peekskill für diesen Tag zu beenden.

Rund 30 Meilen feinste Kurven versüssen mir den letzten Abschnitt des ersten Fahrtages ungemein, stellen aber auch klar, dass man es im Sattel der Heritage nicht eilig haben sollte. Zwar schiebt der mittlerweile luft-/ölgekühlte 114 Cubic Inch (das sind 1868 cm³!) V2 die Fuhre mächtig vorwärts, die Verzögerungsleistung der Einzelscheibenbremsanlage vorne und die mässige Schräglagenfreiheit setzen allzu ungestümer Fahrweise allerdings rasch ein natürliches Ende. Also Gashahn zudrehen, einen oder zwei Gänge raufschalten und untermalt vom herrlich bassigen Sound aus der zweiflutigen Auspuffanlage die malerische Landschaft geniessen.

Das Fahrwerk arbeitet unter Berücksichtigung des zuvor genannten Tipps der Motorradkategorie angemessen. Man darf sich kein Komfortwunder erwarten, das ausladende Gestühl auf dem man als Fahrer - als Sozius weniger - Platz nimmt hilft aber eine standesgemässe Gesamtsituation zu schaffen.

Auch der zweite Tag startet kurvig

Früh am Morgen starte ich bei Sonnenschein aber kühlen Temperaturen von Peekskill aus nach Osten. Dieser Schlenker ist erforderlich, um zumindest noch ein paar schöne Kurven in meinen Rückweg zu integrieren. Am Ufer des New Croton Reservoirs, das als Stausee errichtet wurde, um die Stadt New York mit Trinkwasser zu versorgen, schlängelt sich die State Route 129 entlang. Ein lohnender Umweg, bevor ich den Stausee Richtung Süden überquere und den Weg zurück ans Ufer des Hudsons finde. Der Highway 9 (und später der mautpflichtige 9A) führt mich mit schönen Ausblicken aufs spektakuläre Hudson Ufer der New Jersey Seite, mit seinen steilen Felswänden immer näher an New York City heran.

Motorradfahren in NYC - if you can make it there, you´ll make it anywhere

Auf Höhe des Empire State Buildings biege ich rechts ab und befinde mich sofort im Irrsinn des Midtown-Verkehrschaos. Der Stadtverkehr in Manhattan lässt sich frei nach Frank Sinatra beschreiben: If you can make it there, you´ll make it anywhere! Die mehrspurigen (meistens Einbahn-)Strassen sind hoffnungslos verstopft. Teilweise wird es da oder dort richtig eng, vor allem wenn sich verrückte Kuriere auf E-Bikes, Fahrrädern und E-Rollern kreuz und quer durch den Strom, grosser Baufahrzeuge, schwer beladener LKWs und Busse, sowie unzähliger Taxis schieben.

Inmitten dieses stressigen Treibens fallen mir auf der Harley-Davidson Heritage profane Dinge auf. Etwa die streng zu bedienende Kupplung, deren Hebel (genauso wie der Bremshebel) nicht adjustierbar ist. Ein Zugeständnis an die klassische Optik, das sich im Stop&Go Verkehr stark bemerkbar macht. Auch die Abwärme-Entwicklung des massiven V2-Triebwerks ist nicht ohne. Dank der tiefen Temperaturen ist das zwar aktuell angenehm, im Sommer aber sicher nicht so leicht auszuhalten. Nach ein paar hundert Metern Fifth Avenue, klärt sich der Grund für den Stau - Anlieferung bei einer Nobelboutique samt LKW, der in zweiter Spur hält. Danach tröpfelt der Verkehr gemütlich vor sich hin und ich kann meinen Frieden mit dem Motorradfahren im Big Apple machen, bevor ich in den Tunnel eintauche und Manhattan verlasse.

Die imposante Verrazzano-Narrows Brücke bringt mich nach Staten Island und beschert einen letzten grossartigen Ausblick auf die Stadt, bevor es über breite Schnellstrassen zurück nach New Jersey geht. Bei Eagleriders Shoreline Harley-Davidson nimmt man mir meine leichte Verspätung bei der Rückgabe nicht übel, der New Yorker Verkehr ist berühmt berüchtigt. Ein Kaffee aufs Haus bereitet mich optimal auf meinen Instagram-Livestream zur Reise mit der Harley-Davidson Heritage vor, der den Endpunkt der Reise darstellt.

Fazit: Harley-Davidson Softail Heritage Classic 114 FLHCS 2023

Wenn man nur eine Harley-Davidson ausprobieren kann, ist die Heritage definitiv eine gute Wahl. Sie verkörpert mit ihrem klassischen Auftritt und dem bollernden Milwaukee Eight V2 die Grundwerte der Marke, wie kein anderes Modell. Auch als Reisemotorrad ist sie dank Tempomat, bequemen Sattel, Seitentaschen und Windschild gut geeignet. Für die Bestzeitenjagd auf der Hausstrecke hingegen ist sie definitiv das falsche Bike, Bremsen und Fahrwerk sind darauf nicht ausgelegt. Wer ihr das abverlangt, hat die Thematik Harley-Davidson Cruiser (noch) nicht verstanden.


  • klassische Optik
  • kräftige Motorisierung
  • toller Sound
  • gutes Reisemotorrad mit praktischen Qualitäten
  • hoher Werterhalt
  • Soziussitz unterdimensioniert
  • Fahrwerk und Bremse unter Klassenschnitt
  • stolzer Einstiegspreis

Bericht vom 18.04.2023 | 12'761 Aufrufe

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