Familienduell: Ducati DesertX vs. Multistrada V4 Rally

Offroad ist nicht gleich Offroad – die Unterschiede im Detail

Reiseenduros aus dem Hause Ducati standen stets für sportliche Eleganz, der Fahrer war (meist flott) mit dem Wissen unterwegs, dass er auch auf unbefestigte Wege abbiegen kann, die wenigsten wollten das ihrer Multistrada dann aber wirklich antun. Mit der DesertX haben die Italiener mittlerweile aber eine im Programm, die schon von der Optik förmlich danach schreit, schmutzig gemacht zu werden, mit der Multistrada V4 Rally kam 2023 noch ein Modell dazu, dass zumindest dem Namen nach ebenfalls das Abenteuer sucht. Wir haben die beiden auf und abseits der Strasse miteinander verglichen und uns dabei zwei Testmotorräder mit entsprechendem Zubehör von Wunderlich ausgeborgt.

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60 PS Unterschied sprechen eine deutliche Sprache – wenn man am Gashahn dreht

Gleich vorweg: Es ist ein ungleiches Familienduell, liegen doch nicht nur in Sachen Preis und (Motor-)Leistung Welten zwischen den beiden Ducatis. Aber auch ein reizvolles, weil es einmal mehr zeigt, wie unterschiedlich man die Reise auf zwei Rädern angehen kann. Das wird schon beim Starten des Motors deutlich. Da stehen beim 1.158-Kubik-V4 der Multi stolze 170 PS (bei 10.750 U/min) zur Verfügung, während der 937-Kubik-V2 der DesertX mit 110 PS (bei 9.250 U/min) zwar das stärkste Aggregat der sogenannten Reiseenduro-Mittelklasse ist, hier aber letztlich nicht mitkommt. Was in der Praxis aber kaum störend sein wird, zumindest wenn man nur einigermassen die Strassenverkehrsordnung im Hinterkopf behält. Und abseits der Strasse sind für Otto Normalverbraucher schon die 110 PS zuviel, weshalb Ducati im Enduro-Mode auch entsprechend weniger Leistung, nämlich lediglich 75 bzw. bei der V4 um die 100 PS, zur Verfügung stellt. Im direkten Vergleich präsentiert sich der Vierzylinder mit seinen 121 Nm Drehmoment aber nicht nur durchzugsstärker, sondern auch laufruhiger als der V2, dessen maximales Drehmoment bei 92 Newtonmeter liegt, aber zweizylinder-typisch schon von unten raus sehr präsent zu Werke geht, während der Motor der Multistrada schon hoch gedreht werden will, wenn das volle Orchester aufspielen soll. Der jeweils serienmässige Quickshifter arbeitet in beiden Motorrädern makellos, wobei der Gasgriff beim Hochschalten offen und beim Runterschalten jeweils geschlossen sein muss.

Ihren stolzen 30-Liter-Tank kann die Multistrada V4 Rally gut gebrauchen

Naheliegend, dass sich das perfomante Aggregat der Multi V4 auch entsprechend mehr Sprit gönnt, weshalb der mächtige 30-Liter-Tank der Rally dann auch durchaus Sinn macht, wenn man auf grosse Tour gehen will. Während sich die DesertX bei meinem letztjährigen zweiwöchigen Intensivtest im Schnitt 5,3 Liter auf 100 Kilometer gönnte, so sind das bei der grossen Multistrada, je nachdem wie forsch man am Gashahn dreht, schon gut und gerne eineinhalb bis drei Liter mehr. So gesehen relativiert sich der grössere Tank, je nach Fahrweise wird man mit den 21 Litern an Bord der DesertX sogar fast ähnlich weit kommen. Wobei es für diese im Original-Zubehör auch noch zwei Hecktanks gibt, die das Tankvolumen auf 29 Liter erhöhen, womit die Reichweite dann sogar auf stolze +/- 550 Kilometer hinaufgeschraubt werden kann. Bei unserem Vergleichstest, wo wir auf Land- und Schotterstrassen in der Eifel den Leistungsvorteil des V4 nur selten ausreizen konnten, rief das Display an der DesertX dann aber doch früher zum Tankstellen-Stopp als die grosse Multi…

In Sachen Elektronik hat die grosse Schwester deutlich die Nase vorne

Abzulesen ist dies jeweils gestochen scharf auf einem TFT-Farbdisplay, bei der Multistrada 6,5 Zoll gross, bei der DesertX 5 Zoll und im Hochformat montiert. Punkto Elektronik bietet schon die "Kleine" ein kaum Wünsche offen lassendes Programm mit zahlreichen, gut abgestimmten Fahrmodi, Kurven-ABS und schräglagenabhängiger Traktionskontrolle, die V4 Rally setzt hier aber noch einmal ordentlich einen drauf und lässt praktisch keine Wünsche mehr offen. Ob radargesteuerter, adaptiver Tempomat mit Toter-Winkel-Assistent oder ein wirklich ausgereiftes elektronisches Fahrwerk da ist alles drin und dran, was gut und teuer ist bzw. der Markt aktuell zu bieten hat. Das Skyhook-Fahrwerk mit Gabel und Federbein von Marzocchi kann in unterschiedlichen Härten eingestellt werden und passt sich quasi in Echtzeit den Fahrbahn-Gegebenheiten an, auf Wunsch auch mit automatischer Niveauregulierung, wo das System die Beladung erkennt und die Vorspannung danach anpasst. Speziell beim Wechsel zwischen guten und schlechten, rumpeligen Strassen sind die Vorteile eines elektronischen Fahrwerks am besten zu spüren - gerade noch präzise scharf durch die schnelle, langgezogene Kurve, kurz darauf schon komfortabel durchs Schlagloch - alles kein Problem. Hier kann ein herkömmliches Fahrwerk naturgemäss im direkten Vergleich nicht ganz mit, ist doch die Einstellung in der Praxis, so wie fast alles an einer Reiseenduro, stets ein Kompromiss zwischen sportlich und komfortabel. Welcher mit den hochwertigen, voll einstellbaren Kayaba-Komponenten an der DesertX aber ein sehr guter ist, der kaum Wünsche offen lassen wird.

Wenns von der Strasse runtergeht, fährt die DesertX in einer anderen Liga

Speziell wenn es von der Strasse runter geht, fährt die kleine Schwester in einer anderen Liga. Aus mehreren Gründen. Zum einen rollt ihr 21-Zoll-Vorderrad ruhiger über rumpeliges Geläuf, je schlechter und gröber der Fahrbahnzustand auf unbefestigten Wegen wird, desto mehr wirkt sich dies aus. So wie der grössere Federweg von 230 Millimeter vorne und 220 Millimeter hinten gegenüber den jeweils 200 Millimeter bei der V4 Rally. Auch punkto Bodenfreiheit hat sie mit stolzen 250 Millimeter die Nase vorne, wenngleich auch die 230 der Multi ordentlich sind und für so ziemlich alles ausreichen, was man damit angehen will. Schliesslich sprechen wir hier von einem vollgetankt 260 Kilo schweren Motorrad, dass zwar durchaus Nehmerqualitäten auf unbefestigten Wegen mitbringt, aber dann eben doch im Falle des Falles nicht so leicht wieder aufgehoben ist. Da fühlen sich die 225 Kilo der DesertX im Vergleich richtig leicht an, und genauso fährt sie sie auch. Unterstützt durch eine wunderbare Ergonomie, sowohl beim Stehendfahren, als auch sitzend, wo man im direkten Vergleich mehr aktiv auf dem Motorrad sitzt, während die Position auf der V4 Rally mehr ins Motorrad integriert ist. Bei der Sitzhöhe schenken sie einander nicht viel, bei der Multistrada V4 Rally kann man zwischen 870 und 890 Millimeter wählen, bei der DesertX beträgt sie 875 Millimeter. Durch den etwas grösseren Schrittbogen der bequemeren Multi-Bank wird deren niedrige Position aber sogar etwas "höher" als an der DesertX, Piloten unter 1,80 Meter Körpergrösse, denen ein sicherer Stand mit beiden Füssen am Boden wichtig ist, finden im Zubehör aber eine niedrigere Bank.

Die grosse Reise können beide – entscheidend ist neben der Brieftasche, wo sie hingeht

Unterschiede sind bei den Bremsen zu spüren, auch wenn die verbaute (Brembo-)Hardware fast ident ist, sieht man davon ab, dass an der V4 vorne zwei 330-Millimeter-Scheiben zum Einsatz kommen, während es an der DesertX zwei 320er-Scheiben sind. Hinten ist es jeweils eine 265-Millimeter-Scheibe montiert. Bei der Multistrada V4 Rally sind die Verzögerer merkbar schärfer eingestellt, um den sportlichen Möglichkeiten auf der Strasse gerecht zu werden, bei der DesertX gehen sie sanfter zu Werke. Was man Offroad bzw. auf unbefestigten Wegen zu schätzen weiss, hier muss man mit der V4 doch deutlich behutsamer in die Eisen greifen. Womit wir auch schon beim Fazit bzw. Einsatzbereich der jeweiligen Motorräder wären. Bereit für die grosse Reise sind sie beide, was auch die wirklich stolze Zuladung von 230 Kilo bei der V4 Rally und gar 240 Kilo bei der DesertX unterstreicht. Wo diese hingeht bzw. über welche Wege sie einen vornehmlich führt, wird - neben der Brieftasche - das entscheidendste Argument für die eine oder andere sein. Die Ducati Multistrada V4 Rally ist ein wunderbares Langstrecken-Motorrad mit jederzeit Leistung im Überfluss, auch für die Reise zu zweit, die sich auf der Strasse am wohlsten fühlt, aber durchaus auch grobe Schotterstrassen meistert. Wie weit man dort damit kommt, wird vom Können und in Anbetracht des Einstiegspreises von 31.995 Euro in Österreich bzw. 26.490 in Deutschland auch von der Schmerzbereitschaft des Fahrers abhängig sein. Bei der DesertX, die förmlich danach schreit, auf unbefestigte Wege abzubiegen, ist dies definitiv weiter. Auch sie ist für die Reise zu zweit ausreichend motorisiert und macht dank ihrer Agilität auf der Strasse Spass, zählt aber zu den geländegängigsten Exemplaren der (gehobenen) Reiseenduro-Mittelklasse. Wobei Mittelklasse bei stolzen 20.595 Euro in Österreich bzw. 16.790 in Deutschland natürlich relativ ist - aber he, es ist eine Ducati! Für beide Modelle bietet die Firma Wunderlich entsprechend viel praktisches Zubehör, wie man auf den Fotos in der Bildergalerie schön erkennen kann.

Bericht vom 04.11.2023 | 15’941 Aufrufe

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