Motorradfahren lernen - die Fahrphysik im Fokus
Einfach erklärt: Reibbeiwert µ, Aufstandsfläche „Latsch“, Schlupf
Die einzige Verbindung zwischen Motorrad und Strasse ist klein. An zwei handtellergrossen Stellen berühren deine Reifen den Asphalt. Worauf es ankommt, ob deine Reifen deine Wünsche umsetzen können.
Wie viel Bremskraft, wie viel Beschleunigungskraft, wie viel Seitenführungskraft kann dein Reifen auf den Boden bringen? Ganz vereinfacht: kommt es auf drei Faktoren an: Wie ist dein Reifen beschaffen? Wie ist die Strasse beschaffen? Wie sehr wird der Reifen auf die Strasse gedrückt? Dein Reifen ist ein unheimlich komplexes Produkt, dessen Eigenschaften mit bestimmen, wie viel Gripp du hast. Man kann aber nicht sagen: Das ist ein guter Reifen und der andere ist ein schlechter Reifen. Es kommt neben vielen anderen Punkten auch darauf an, welchen Luftdruck, welches Alter, welchen Abnützungsgrad er hat. Die wichtigste Frage aber ist: wie gut passt er zu der Strasse, auf der er deine Wünsche umsetzen soll? Diese Frage ist sogar quantifizierbar, das heisst, man kann diese Frage beantworten, indem man dem Ganzen einen Wert gibt.
Der Reibbeiwert µ, auch Reibungskoeffizient „Müh“ genannt
Die Reibbeiwertzahl µ gibt an, wie viel von der Kraft, mit der dein Reifen auf den Boden gedrückt wird, zum Beispiel in Fahrtrichtung umgesetzt werden kann. Hat dein Reifen auf einem bestimmten ebenen Asphalt etwa einen…
Reibbeiwert = 1,0 µ
…dann bedeutet das, dass du rein theoretisch ohne durchdrehende Reifen genauso schnell beschleunigen kannst, wie die Erdbeschleunigung. Also wie ein fallender Apfel. Um das einzuordnen: Das wäre schon ein sehr griffiger Reifen und ein sehr griffiger Asphalt und du bräuchtest einen sehr starken Motor und ein längeres Motorrad mit tiefem Schwerpunkt (denn sonst würdest du dich überschlagen). Denn du würdest dann mit 1g, oder 9,780 m/s2 beschleunigen. Anders ausgedrückt: von Null auf 100 km/h in 2,84 Sekunden.
Bremsen ist ja nichts anderes als eine Negativbeschleunigung
Bei einem Reibbeiwert von 1,0 hättest du also mit deinem Motorrad theoretisch einen Bremsweg aus 100 km/h von 39,448 Metern. Auch das wäre ein guter Wert. In der Kurve wiederum würde das bedeuten, dass du eine Schräglage von 45° fahren könntest, auch das ist auf öffentlichen Strassen schon überaus sportlich. Wir sind jetzt immer davon ausgegangen, dass das alles in der Ebene passiert, also dass der Anpressdruck immer dem Gesamtgewicht entspricht. Das ist natürlich nicht immer so. Natürlich kann man in Steilwandkurven höhere Kurvengeschwindigkeiten fahren, weil sich der Anpressdruck auf den Asphalt mit der Fliehkraft erhöht. Natürlich kann man bergab schneller beschleunigen und bergauf kürzer bremsen. Entgegen weit verbreiteter Meinungen, gibt es auch Reifen mit einem Reibbeiwert grösser 1,0. Solche werden vor allem im Rennsport verwendet. Aber auch für den Strassenbetrieb zugelassene Reifen haben immer höhere Reibungskoeffizienten auf bestimmten Strassen.
Alle Berichte der umfassenden Serie "Motorradfahren lernen" auf 1000PS:
Honda, Metzeler, Stadler und SW-Motech als 1000PS-Partner!
Ein grosses Projekt verlangt nach grossen Partnern - weshalb wir uns entschieden, für unsere Berichteserie Motorradfahren lernen mit hochwertigen Herstellern wie Honda, Metzeler, Stadler und SW-Motech zusammen zu arbeiten. Für einen feinen Querschnitt durch die aktuellen Motorradkategorien haben wir von Honda eine einsteigerfreundliche CB500 Hornet, eine sportliche CBR650R sogar mit E-Clutch (muss man mal probiert haben!) und als Referenz für das Adventure-Segment eine CRF1100L Africa Twin Adventure Sports mit elektronisch verstellbarem Fahrwerk gewählt. Bestückt wurden alle Bikes mit Taschen oder Tankrucksäcken von SW-Motech, damit wir diverse Utensilien, die wir bei unseren Fotofahrten brauchten, gut verstauen konnten. Da wir natürlich nicht wussten, wie das Wetter wird, vertrauten wir bei der Kleidung auf Highend-Ware von Stadler Bekleidung, die dank GoreTex-Material und innovativen SASS-Belüftungsöffnungen sowohl bei nasskaltem als auch bei heissem Wetter ausgezeichnet funktionieren. Schliesslich wollten wir auch bei den Reifen nichts dem Zufall überlassen, für unsere Vorführ-Fahrten wurden auf allen drei Maschinen Qualitäts-Pneus von Metzeler aufgezogen. Und ja, richtig vermutet, natürlich hat mit allen vier Herstellern alles problemlos funktioniert!
Vorsicht! Die Performance deines Reifens ist unabhängig von Prospektwerten!
Sie ist unheimlich davon abhängig, wie gut er zu einem bestimmten Untergrund passt und ob er im richtigen Temperaturfenster ist und ob der Luftdruck für die jeweilige Situation richtig ist. Leider kann ein Reifen nicht in alle Richtungen dieselbe Kraft übertragen. Genau das wird im Kammschen Haftkreis dargestellt. Wie hoch diese Werte sind, ist auch abhängig vom Thema des nächsten Absatzes:
Die Reifenaufstandsfläche, auch der „Latsch“ genannt
Die Reifenaufstandsfläche deiner Reifen hat im Stand wahrscheinlich die Form der Silhouette eines Rugby-Balls und die Grösse einer Scheckkarte bei schmalen, kleineren Reifen, wie sie bei Rollern verwendet werden. Sie ist entsprechend grösser, je breiter und grösser dein Reifen ist. Und je weniger Luftdruck er hat.
Je grösser der Latsch, desto mehr Grip?
Diese Aussage ist grundsätzlich nicht falsch, sie stimmt aber auch nicht 100%. Lässt du nämlich etwas Luft aus deinem Reifen, wird zwar der Latsch dadurch grösser, aber dein Reifen verliert dadurch möglicherweise ganz wichtige Eigenschaften, die den Grip deines Reifens überhaupt erst ermöglichen. Deshalb ist der richtige Luftdruck laut Herstellerangaben so wichtig. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, dass die kleineren Klassen der Motorradweltmeisterschaft mit ihren kleineren Reifen höhere Kurvengeschwindigkeiten erreichen als die grossen Klassen mit ihren fetten Reifen. Obwohl sie einen kleineren Latsch haben? Wir wollen diese Diskussion nicht führen, denn die kleineren Klassen fahren auch andere Kurvenlinien und Rennsport auf diesem Level ist überhaupt sehr komplex. Was man aber schon mitnehmen kann: Die Eigenschaften eines Reifens sind ebenfalls ein schwer fassbares Thema und es kommt eben nicht immer auf die Grösse deiner Reifenaufstandsfläche an.
Der Latsch verändert sich ständig während der Fahrt
Beim Beschleunigen, beim Bremsen verändert der Latsch ganz grundlegend seine Form; weil ein Reifen eben nicht aus starrem, unverformbarem Material gemacht wurde, sondern die Entwicklungstechniker der Reifenhersteller betreiben grossen Aufwand, dass er sich so verformt, wie es für einen bestimmten Zweck optimal ist. Speziell die Schräglagenfahrt ist dabei natürlich eine Herausforderung. Denn in Schräglage verändert sich nicht nur die Form des Latschs sondern auch dessen Lage. In Schräglage berührt ja nicht mehr die Mitte der Lauffläche den Boden, sondern die sogenannte Flanke. Auch deshalb hat ein Reifen in Schräglage andere Eigenschaften, als auf der Geraden. Bei höheren Geschwindigkeiten drücken die Fliehkräfte den Reifen nach aussen (weg von der Radachse) und er bekommt in der Regel eine spitzere Querschnittsform, was ebenfalls den Latsch verändert. Eigentlich versucht der Reifen natürlich möglichst viel Kontakt mit dem Asphalt oder eben dem Untergrund, auf dem du fährst, zu halten. Doch übersteigen deine Wünsche (Gas, Schräglage, Bremsen!) seine Performance (also das, was er kann), beginnt er zu rutschen.
Der Schlupf. Was ist das?
Der Schlupf ist nichts anderes als der Übergang von der Haftreibung in die Gleitreibung. Man kann auch Grenzbereich sagen. Viele Reifen rutschen ja nicht von einer Tausendstelsekunde zur nächsten weg. Zuvor kündigt sich hoffentlich das Rutschen an. Beim Bremsen etwa spüren oder hören erfahrene Motorradfahrer dieses Wimmern, das ankündigt, dass sich die Reifenoberfläche des gebremsten Rads mit etwas geringerer Geschwindigkeit dreht als jene, mit der der berollte Asphalt unten vorbeiflitzt. Eigentlich sollte ja die Radumdrehungsgeschwindigkeit immer so sein, dass der Reifen einen Kraftschluss hat, also rollt und in der Haftreibung bleibt.
Die Differenz zwischen Radumdrehungsgeschwindigkeit und Bewegungsgeschwindigkeit nennt man Schlupf
Dieser wird meist in Prozent angegeben. Also zum Beispiel 10% Schlupf. Das würde beim Bremsen bedeuten, dass sich dein Rad um 10% langsamer dreht, als es deiner derzeitigen Bewegungsgeschwindigkeit (deines Motorrads) eigentlich entsprechen würde. Beim Beschleunigen gibt es diesen Effekt auch, bei sehr hohen Geschwindigkeiten kann Schlupf sogar auftreten, wenn du deinen Speed immer gleich hältst, weil der Luftwiderstand so gross ist und die Reifen nicht die ganze Motorleistung auf die Strasse bringen, also ganz wenig aber ständig durchdrehen. Auch in Schräglage kann es dich im Grenzbereich geringfügig nach aussen versetzen, obwohl du nicht komplett weg rutschst. Rennfahrer leben mit diesem seitlichen Schlupf.
Schlupf ist also normal und allgegenwärtig. Er darf nur nicht zu gross werden!
Für die Entwicklung elektronischer Helferleins, vor allem ABS und TC, spielt dieser Schlupf-Wert eine wichtige Rolle, weil damit dem System eine Art Toleranz zugebilligt wird, bevor es eingreift. Wie hoch die ist, bestimmen Fahrmodi, andere Einstellungsmöglichkeiten am Motorrad und die Vorgaben der auftraggebenden Hersteller an die Entwickler.
Nachschlagewerk: So geht das! Wie man was findet
Auch wenn das 1000PS Nachschlagewerk nicht auf einmal sondern bis Ende des Jahres immer weiter ergänzend erscheint, ist es am Ende eine grosse, einem Lexikon ähnliche, Database, in der man nach Kapiteln und Absätzen geordnet auf die häufigsten Fragen, die in den 1000PS-Foren in den letzten Jahren gestellt wurden, eine Antwort findet.
Die umfassende Serie "Motorradfahren lernen" auf 1000PS im Überblick:
Entdecke unsere umfassende Serie "Motorradfahren lernen" auf 1000PS, in der wir alle Aspekte des Motorradfahrens behandeln. Von der Wahl des richtigen Motorrads, über die korrekte Bedienung von Kupplung und Bremsen, bis hin zur optimalen Körperposition und Kurventechnik. Wir zeigen dir, wie du moderne Fahrassistenzsysteme nutzt, bei Nacht oder auf nasser Fahrbahn sicher fährst und sogar wie du Notmanöver meisterst. Egal ob du Anfänger bist oder deine Fähigkeiten verbessern möchtest, unsere Serie bietet wertvolle Tipps und Ratschläge für jeden Fahrer. Tauche ein in die Welt des Motorradfahrens mit 1000PS!
Alle Berichte der umfassenden Serie "Motorradfahren lernen" auf 1000PS:
Bericht vom 25.07.2024 | 4'334 Aufrufe